Moondog

Im Januar 1974 reist der blinde amerikanische Komponist und Dichter Louis Hardin alias Moondog (1916–1999) im Alter von 57 Jahren auf Einladung des Hessischen Rundfunks aus seinem Domizil Candor, New York, zu seiner ersten Kurztournee nach Europa. Nach Konzerten in Weilheim, Frankfurt und Hannover beschließt Hardin, vorerst in Deutschland zu bleiben. Moondog findet vorübergehend in Hamburg im Umfeld der Selbsthilfeorganisation Release Aufnahme, dann nimmt ihn die Hamburger Fotografin Beatrice Frehn für mehrere Wochen in ihre Wohngemeinschaft auf. In dieser kurzen Zeit organisiert Moondog sichfür den 10. Mai 1974 in der Hamburger Fabrik ein Konzert. Die Musiker hierfür kommen aus dem Kreis der Philharmonia Hungarica, ungarische Exilmusiker, die in Marl (Kreis Recklinghausen) wohnen und arbeiten. Zum Ensemble der Musiker, die das Konzert in der Fabrik bestreitet, gehört auch der junge, deutsche an der Folkwang Hochschule ausgebildete Organist Fritz Storfinger aus Oberhausen.

Im Sommer 1974 folgt Moondog der schriftlichen Einladung seines 19jährigen Fans Tom Klatt und reist kurzentschlossen mit einem Taxi von Hamburg nach Marl. Moondog und Klatt gründen in einem Fachwerkhaus in der Recklinghausener Altstadt eine Wohngemeinschaft. Klatt wird Moondogs erster Manager und organisiert weitere Konzerte u.a. in Marl, Münster, Düsseldorf und Recklinghausen.

Moondog, der seit den 1940er Jahren ein populärer und respektierter Straßenkünstler in Manhattan ist und sich mit Plattenveröffentlichungen auf Labels wie Prestige und CBS einen Namen als amerikanischer Komponist klassischer Musik gemacht hat, geht nun in seinem selbstgeschneiderten Wikinger-Outfit, samt Ledercape, gehörntem Helm und Speer seinem Tagwerk als Straßenkünstler in den Fußgängerzonen von Recklinghausen und Münster nach.
1976 wird der 60jährige Moondog von Familie Göbel aus Oer-Erkenschwick aufgenommen. Tochter Ilona Göbel (später Ilona Sommer, 1951–2011) wird bis zu seinem Tod 1999 in Münster seine Managerin und Weggefährtin bleiben, deren Fürsorge Moondog bis ins hohe Alter ein beachtliches Spätwerk und erfolgreiche Tourneen vor allem in Schweden, England, Frankreich, Schweiz und auch eine kurze Rückkehr nach New York ermöglicht.

Moondogs Musik und Dichtkunst
Moondogs Kompositionen sind streng dem Kontrapunkt verpflichtet. Seine Madrigale und Symphonien bauen auf der Kanonform auf und zeichnen sich durch einen betont rhythmischen Hintergrund aus. Moondog, der als 16-Jähriger beim Spielen durch die Explosion einer Sprengkapsel erblindet war, notierte seine Stücke in Braille-Notenschrift.

Ab den späten 1940er Jahren baut Moondog, inspiriert von Jazz-Drumsets, afro-kubanischen Perkussionsinstrumenten und Orff-Instrumenten, eigene Instrumente wie die dreieckige Doppeltrommel Trimba, die er mit Klanghölzern und Maraccas spielt, um einen komplexen perkussiven Sound zu erzielen.
Ab den 1960er Jahren komponiert Hardin verstärkt für die Kirchenorgel, um mit Kirchenräumen etablierte Auftrittsorte für seine selbst organisierten Tourneen ansprechen zu können und auch um als klassischer Komponist wahrgenommen zu werden. (Er lässt seine Stücke neben Orgelwerken von Bach aufführen.)

Moondogs einfache, klassisch-tonale Musik beeinflusst Ende der 1960er Jahre auch die Entwicklung der Minimal Music. Er lebt sogar fast zwei Jahre mit Philip Glass zusammen. Es existieren Aufnahmen von Moondog, Philip Glass und Steve Reich.

Seine als Kanons und Madrigale vertonten Couplets zeigen Moondogs pointierten Witz, seine Lebensweisheit und vor allem sein großes Interesse an frühgeschichtlicher Theorie, nordischer Mythologie und Numerologie. Ab den späten 1980er Jahren formuliert (und vor allem dichtet) Moondog eine pyramidal-symmetrische, numerologisch-esoterische Kompositions- und Musiktheorie, die er „Overtone Continuum“ nennt und für die er als Tonreihe die ersten neun harmonischen Obertöne eines Grundtons verwendet.