MANTRA NACHSPIELE

15. April 2011 / Freitag / 20 h
Alte Feuerwache / Köln

Jennifer Hymer
Bernhard Fograscher
Klavierduo

Karlheinz Stockhausens „Mantra“ für 2 Pianisten von 1970 gilt als Meilenstein in der klanglichen Entwicklung des Genres. Trotz seiner epochalen Bedeutung folgten nur wenige Komponisten diesem Weg. Mit ihrer Hommage „Mantra NachSpiele“ setzte sich das Klavierduo Jennifer Hymer und Bernhard Fograscher das Ziel, dieses Genre weiter zu etablieren und vergab Kompositionsaufträge an Oxana Omelchuk (UA), Hans Tutschku, Sascha Lino Lemke und Harald Muenz. Ergänzt wird der Abend durch Michael Beils ‚Doppel für zwei Klaviere mit Live-Audio und Live-Video‘.

Programm:
Sascha Lino Lemke
Sketches for a Postcard to Sirius (2010)
für 2 Klaviere und Elektronik

Harald Muenz
unashamed piano playing (2010)
für 2 Pianisten ohne Elektronik

Michael Beil
Doppel für zwei Flügel
mit Live-Audio und Live-Video

Oxana Omelchuk
PLAY BACK (2011)  (UA)
für 2 Klaviere, 2 Keyboards und Zuspiel/Sampler

Hans Tutscku
Irrgärten (2010)
für 2 Klaviere und live-Elektronik

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Sascha Lino Lemke: Sketches for a Postcard to Sirius
„Sketches for a Postcard to Sirius“ besteht aus drei ineinander übergehenden Studien. Die erste ist eine Etude über verschiedene Aspekte mikrotonaler Harmonik, entstehend aus dem Spiel der Pianisten auf den „normal“ gestimmten wohltemperierten Flügeln und dessen elektronischer Verarbeitung. Verschiedene Formen reiner, gestauchter und gestreckter Spektren, komplexe Glissandi, die sich schwebungsfreien Akkorden nähern und diese wieder verlassen und dabei deren Gravitationskraft spürbar machen; Schwebungen und Schmutz – dies wird in dem ersten Abschnitt erforscht. Die zweite Etude beschäftigt sich einerseits rhythmisch mit den Spiel zwischen Synchronizität und Asynchronizität: einfache pulsierende Situationen, bei denen die beiden Spieler „zusammen“ spielen, laufen auseinander, es bildet sich allmählich wieder eine neue rhythmisch stabile Situation heraus und so fort. Zum anderen werden verschiedene Ebenen von Filterung ausgelotet: Cluster werden durch stumm gedrückte Tasten oder die Pedale der Klaviere gefiltert; die Elektronik greift diese Resonanzklänge auf und baut daraus eine weitere, bisweilen eigenständig erscheinende Schicht aus einfachen und transformierten Echos auf. Eine Art Sirius-Filter-Schaukel – sicherlich mit Lachenmann auf der anderen Seite… Die letzte Etude, die mit „Punkte für Nancarrow“ übertitelt sein könnte, ist eine Art mikrotonaler Hoquetus-Boogie-Woogie, dessen Linien und Gesten erst beim Zusammenkommen von Liveparts und deren anhand einer genauen elektronischen Partitur live erzeugten Transformationen hörbar werden.

Michael Beil: Doppel
Die Stadien der Entstehung von „Doppel“ können beim Hören und Sehen mit verfolgt werden. Das Nachdenken über das Klavierspielen, über die spezielle Situation und Aktion auf der Bühne findet in „Doppel“ keine endgültige Gestalt. „Doppel“ ist deshalb weniger ein in sich abgeschlossenes Werk, sondern mehr eine Dokumentation seiner Entstehung. Zu Beginn werden Materialentscheidungen getroffen und den Pianisten je zwei Materialtypen zugeteilt. Im weiteren Verlauf interpretieren die Pianisten nicht nur die notierte Musik, die sich aus dieser Anfangssituation allmählich entwickelt, sie schlüpfen auch in eine Rolle. Sie haben einen Stoff, jeder für sich, und sie haben eine Aufgabe, die über das Klavierspielen hinaus geht. Daraus resultiert der vorrangige visuelle Aspekt in „Doppel“. Es ist nicht das Video, es sind die Pianisten, die sichtbar gerade so weit aus dem gewohnten Agieren heraus gehen, wie es nötig ist, um an ihre Präsenz zu erinnern und an das, was sie eigentlich tun. Die Videoebenen in „Doppel“ sind dagegen nichts anderes als konkrete Erinnerungen, wie sie beim Komponieren und beim Hören vorkommen. Sie erinnern allerdings nicht nur an das Vergangene und seine Auswirkungen. Sie machen deutlich, dass in der Gleichzeitigkeit mehrerer musikalischer Ereignisse auf der einen Seite beim Komponieren und auf der anderen Seite beim Hören stets ein ganzes Netzwerk von Assoziationen am Wirken ist. Interessant dabei ist für mich die Erfahrung, dass ein momentaner Eindruck in der Musik, vom Komponisten konstruiert, beim Hören wieder in seine Bestandteile dekonstruiert wird. Dabei kann das Resultat beim Hörer völlig anders aussehen als die Ausgangslage beim Komponisten und auch sehr verschieden bei jedem Hörer. Außerdem kann natürlich auf beiden Seiten mehr oder weniger intuitiv oder intellektuell vorgegangen werden und die dadurch entstehende Schieflage würde man in der Sprache durchaus als Missverständnis bezeichnen. Berücksichtigt man die Tatsache, dass manche schon in der Sprache eine gelungene Kommunikation als Utopie betrachten, müsste man in der Musik dann beinahe von einer Unmöglichkeit sprechen. In der komponierten Musik ist eine solche „Schieflage“ der zu erwartende Normalfall, vorausgesetzt man arbeitet nicht mit den einfachsten Mitteln, und als Komponist muss man mit ihr umgehen. In diesem Kontext ist die hier gestellte Frage: was passiert, wenn die erste Hälfte dieses Prozesses, die Herstellung eines musikalischen Moments, schon dekonstruiert wahrgenommen werden kann?  Michael Beil, Oktober 2009

Oxana Omelchuk: PLAY BACK
Mit Playback bezeichnet man eine Methode, bei der alles oder Teile des Vortrages von einem Tonträger abgespielt werden. Der Sampler, den ich in meinen letzten Stücken als Komponierwerkzeug bevorzuge, dient nicht nur der Wiedergabe von vordefiniertem Material (in diesem Stück handelt es sich um die Takte 692-705 aus dem letzten Abschnitt von „Mantra“ von K. Stockhausen, die den verschiedenen Transformationen unterworfen wurden), sondern er hat eine interaktive Funktion: er ist der Teil einer Aufführung, in die er mit seinen gespeicherten Klängen aktiv eingreift: beweglicher als das Tonband, realitäts-bezogener als die vorwiegend selbstreferentielle Live-Elektronik. Erst durch die Kombination mit live gespielten Passagen werden neue inhaltliche Ebenen erreicht, in denen die Musik von Stockhausen fast nicht mehr erkennbar wird. Die „Mantra“-Abschnitte verwandeln sich entweder in minimal-Musik, in fast kitschige Film-Musik-Flächen, oder in ein Konzert für 2 Klaviere und MIDI-Orchester. Das endlose Wiederholen des gleichen „Playback“ – Materials, die mechanischen Wechsel in der Instrumentierung, die Reduzierung des ästhetischen Verfahrens auf on/off- Befehle nähert sich einer Pop-Musik-Ästhetik. Keine Übergänge, keine Ritardandi, keine Entwicklungen. Im Gegenteil: Brüche, Plötzlichkeit, Heftigkeit. Und transparente Repräsentanz des Beats. Die Inspirations-Quelle für die Verwandlungen der Musik Stockhausens waren 13 Mantra-Anagramme, in denen aus den Wörtern „Stockhausen“ und „Mantra“ durch die Permutationen der einzelnen Buchstaben neue Wörter und damit neue Inhalte gebildet wurden:

I. Stockhausen Mantra
II. Namenstausch Aktor
III. Aktors Namentausch
IV. Namenstausch Kroat
V. ausmachten Kartons
VI. Rates Nachtuns Amok
VII. unachtsamen Aktors
VIII. Masurkas Notte nach
IX. Matuschka Anrosten
X. unachtsamste Koran
XI. Taktmass Rauch Neon
XII. Matuschka Rotnasen
XIII. Kornetts Namas auch

Hans Tutschku: Irrgärten
Die Komposition ist wie ein Weg durch verschiedene Irrgärten und untersucht, wie wir uns an musikalische Momente erinnern. Beide Klaviere spielen sehr ähnliches musikalisches Material, bilden energiereiche Dialoge und vereinen sich zuweilen zu einer Stimme. Das Stück ist in kontrastierende Abschnitte unterteilt. Nach und nach werden Fragmente späterer Teile als „Vorahnungen“ eingeführt. Später wird schon bekanntes musikalisches Material in Ausschnitten oder als gesamte Teile wiederholt – aber die Elektronik ist bei diesen wiederholten Teilen verschieden. Auf dem Weg im Irrgarten versucht man, eine Vorstellung des Weges zu bekommen: einzelne Orte erscheinen ähnlich, sind aber in Wirklichkeit verschieden – man ist gefangen.  Der live-elektronische Part wird mit zwei iPods realisiert. Die eingebauten Mikrophone werden benutzt, um den live-Part zu verfolgen und die elektronischen Klänge zu den Klavieren zu synchronisieren.

Harald Muenz: unashamed piano playing
Sponsoren, Festivals und Rundfunkanstalten sind zusehends geneigt, ausschließlich noch „mediale Produktionen“ zu fördern; bloßes Komponieren auf Notenpapier wird als „altmodisch“ abgetan. Dieser digital hype ist mit der absurden Behauptung vergleichbar, nun gebe es ja das iPad und man könne gedruckte Bücher ab sofort getrost vernachlässigen. Äußerlich-materieller Gerätefortschritt wird mit ästhetischem Zugewinn verwechselt, häufig gar unter Berufung auf Adornos Materialbegriff in der „Philosophie der neuen Musik“1, der allerdings nun auch schon eine Weile zurückliegt: die erste Auflage  des Buches erschien 1949… Gemessen an der Tradition der abendländischen Musik ist „Computermusik“ eine relativ junge Entwicklungsstufe. Eine endgültige Definition dessen, was sie eigentlich sei, ist noch immer im Entstehen begriffen. (siehe Begriffe wie ‚Tendenz des Materials‘, ‚Bewegungsgesetze des Materials‘, ‚geschichtliche Tendenz der musikalischen Mittel‘, ‚fortgeschrittenster Stand der technischen Verfahrungsweise‘, ‚Forderungen, die vom Material ans Subjekt ergehen‘, ‚Material [als] sedimentierter Geist‘, in: Adorno, Theodor W. 1976. Philosophie der neuen Musik. Frankfurt: suhrkamp, 38-42. Es versteht sich, dass „Musik, die vom Computer gespielt wird“ nicht genügt, sonst wäre bereits eine per MIDI abgespielte Bachfuge „Computermusik“.  Genauer ausgeführt in: Muenz, Harald: „Live random concepts and sight-reading players – the role of the computer in the era of digested digitalism“, in: Contemporary Music Review, vol. 29, no. 1, Februar 2010, 81-87.) Da mir scheint, dass die produzierte Musikdaten-Unmenge zu starker Standardisierung und – im Vergleich zu traditioneller Musik – zu inhaltlicher Reduktion führt, reizt es mich künstlerisch antizyklisch zu reagieren, indem ich wieder scheinbar „reine Partiturmusik“ komponiere, die aber durch die tägliche Erfahrung mit dem Computer tief geprägt ist. Mir fiel auf, dass kommerzielle Notationssoftware ab einem bestimmten Komplexionsgrad einer Partitur „aussteigt“ und die Datenmenge reduziert. Eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit, und üblicherweise würde ein Komponist ein solches Programm“feature“ meiden – ich beschloss aber, darauf kreativ zu reagieren. Eine Unmenge von Tönen, die ich „zu Fuß“ als eine Abfolge unterschiedlich breiter und verschieden timbrierter Cluster vorstrukturiert hatte, sollte dieses Software-Nadelöhr passieren. Die unfreiwillig computergefilterten Ergebnisse wurden von mir kompositorisch redigiert und wiederum in das Notationsprogramm zurückgefüttert. Heraus kam eine Art Variationsfolge, die das Resultat einer Art „Stiller Post“ mit mir selber ist – oder ist genau dies genuine Computermusik? (hm 2010)

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Jennifer Hymer, Pianistin – Die aus den USA stammende und in Hamburg lebende Pianistin Jennifer Hymer interessiert sich besonders für die eher ungewöhnlichen und einzigartigen klanglichen Möglichkeiten des Instruments. So hat sie sich auf ein Repertoire für Piano, Multimedia und erweiterte Techniken spezialisiert und bezieht in ihre Performances auch das Toy Piano und die Kalimba mit ein.
www.jenniferhymer.de

Bernhard Fograscher, Pianist – Im Rahmen einer vielgestaltigen Konzerttätigkeit setzt sich der Bernhard Fograscher nachhaltig für zeitgenössische Musik und entlegenes Repertoire ein, und widmet sich darüber hinaus zahlreichen konzeptionellen Projekten.

WDR 3 TonArt
Ein Beitrag von Anna Austrup

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reiheM – Konzertreihe für Gegenwartsmusik, Elektronik und neue Medien wird veranstaltet von Mark e.V. und gefördert durch das Kulturamt der Stadt Köln und vom Ministerium für Familie, Kinder, Jugend, Kultur und Sport des Landes Nordrhein-Westfalen